Wer »den Islam« kritisiert, stellt die falschen Fragen.
Eine Replik auf Christian Baron

 

Christian Baron schrieb am 29. Oktober an dieser Stelle über »das linke Islam-Tabu«. Sein Beitrag lässt einen mit vielen Fragezeichen zurück. Kann von einem linken Islam-Tabu die Rede sein, wenn doch seit etwa 15 Jahren innerhalb der Linken heftig darum gestritten wird, wie sich die Linke in Deutschland zum Islam verhalten soll?

1.     Ist diese Fragestellung ja deutlich älter als 15 Jahre:  - ab 1960 etwa im Rahmen linker Schah-Proteste/Iran-Politiken (2. Juni/Ohnesorg) mit islamischer Revolution 1979, Islamisierung wichtiger Globaleliten, sichtbar von Cassius Clay bis Cat Stevens, und z. T. von „Avantgarden“ wie Black Panters zu Black Muslim usw.  

2.     Wäre die angebliche Heftigkeit eines angeblich 15-jährigen Linken-Streits auch kein  Argument gegen ein vom Vorredner diagnostiziertes Linken-Tabu gegenüber den Islamfragen, - eher im Gegenteil: der Einordnung nach der Vorerfahrung, wonach oft Tabus berührt sind, wenn’s „heftig“ wird, entgeht die Linke hier nur etwas, weil sie fast immer so inhaltlich dünn wie heftig streitet, - bis hin zu frohem Siegerliedgut auf Parteitagen und wesentlich weiteren Dunkelseiten, die nicht so leicht sichtbar sind und in Nebenzimmern u. ä. gepflegt werden.

 

Hieß etwa die Beschneidungsdebatte nicht deshalb so, weil es sich um eine gesamtgesellschaftlich und auch innerhalb der Linken kontrovers geführte Auseinandersetzung handelte - oder war das alles Schein und in Wahrheit handelte es sich um einen Beschneidungskonsens?

Das verfehlt so, ohne weitere Vermittlung, das Thema Linke und Islam.

Die Beschn.-Debatte ging um die Vereinbarkeit/die Abwägung religiöser Körperregime an Kindern mit dem Kindeswohl, den Unverletzlichkeitsgeboten usw. Auch vor dem Hintergrund staatlich-gesellschaftlich-laizistischer Eingriffsoptionen in die Körperregime von Kindern u. a. Un- oder Teilmündigen. Neben den großen Islamformen sind davon auch Juden und andere betroffen.

Ist es tatsächlich die Kritik an antimuslimischem Rassismus, der den strukturellen Rassismus stützt - oder ist es nicht viel mehr der strukturelle Rassismus, gerichtet gegen vermeintliche oder tatsächliche Muslime, der die antirassistische Kritik an ihm notwendig gemacht hat? Warum soll in erster Linie der Islam in Deutschland Objekt einer linken Religionskritik sein - angesichts der kulturellen Vorherrschaft des Christentums, jener Religion, die nebenbei ganz offiziell staatlich subventioniert wird?

All diese Fragen müssten gesondert behandelt werden,
[richtig, so ist linke Kritik am Christentum aber sehr viel älter und umfangreicher, als die linke Kritik am Islam bzw. an den verschiedenen Islamformen, -  womöglich weil viele Islamformen sehr zinskritisch aufgestellt sind, wenn es um Fremdkapital/Kredit geht, weniger  beim haftenden Eigenkapital]

hier aber soll es um das Kernanliegen des erschienenen Beitrags gehen. Das ist ein legitimes: Baron fragt sich, wie man reaktionären Tendenzen begegnen kann. Auf Basis seiner Annahmen lässt sich jedoch aus zwei Gründen keine Perspektive einer linken Entgegnung formulieren. Erstens verbleibt er mit seiner Religionskritik auf der Ebene von Erscheinungsformen. Zweitens entzieht er der Kritik an konkreten religiösen Praktiken die Grundlage, wenn er jegliche Ausformungen als Ausdruck »des Islams« versteht. Seine Diagnose ignoriert damit ideologische und alltagspraktische Unterschiede.

Im Verständnis der meisten Menschen soll Religionskritik die »Irrationalität« von Religion vor Augen führen. Sie soll religiöse Mythen widerlegen, Menschen gegen den Glauben immunisieren und so zu einer Säkularisierung der Gesellschaft beitragen. Eine Religionskritik, die sich darauf beschränkt, ist aus linker Perspektive unzureichend. Schließlich wollte Marx mit seiner Kritik an der Religion auf den Zusammenhang von sozialer Herrschaft und Religion hinweisen, als er schrieb: »Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf«.

Auch wenn „gut gemeint“ im Sinne von nicht mehr nötig haben müssen: Das heißt leider, den Zustand des Menschseins aufzugeben, - wogegen sich die meisten der derart „Zuständigen“ ja auch immer wieder wehren. Und warum man weiterhin „schließlich“ Marx als  den Referenzpunkt für „linke“ Religionskritik, die über die übliche Negation der Religion hinausgeht, hernimmt, erschließt sich besonders im Umfeld der unten angegebenen Selbstauguration, man arbeite gemeinsam „seit 2010 zu aktuellen Konjunkturen des Rassismus“ überhaupt nicht.

Es geht nicht nur darum, die Ideologie für Unterdrückung verantwortlich zu machen, sondern auch darum, die sozialen Verhältnisse zu betrachten, in der eine Ideologie notwendig wird. Anders gesagt reicht es nicht aus, das berühmte Opium des Volkes zu verbrennen, solange sich so viele Menschen bereitwillig damit betäuben wollen.

Es ist die Aufgabe linker Analysen, herauszufinden, in welchem Verhältnis religiöse Ideologien und soziale Verhältnisse zu verschiedenen Zeitpunkten stehen. Es hilft dabei nicht weiter, einen direkten immer gleichen Zusammenhang zwischen Schriften und spezifischen religiös begründeten Praktiken, Barbareien und Gesellschaftssystemen herzustellen. Baron hebt etwa hervor, dass die Ermordungen von Homosexuellen, Frauen und Nicht-Muslimen unter »plausibler Berufung auf den Koran« stattfinden. Damit ist aber noch nichts erklärt: Dass die Bibel, die Thora und der Koran zum Beispiel eine patriarchale Prägung aufweisen, ist nun wirklich keine neue Erkenntnis. Die Frage, wann sie warum in welcher Weise herangezogen werden, um patriarchale Geschlechterverhältnisse aufrecht zu erhalten, oder der Blick auf Stellen, an denen die patriarchale Dimension von Religion herausgefordert wird, sind Ansatzpunkte, die weiterführen.

Schon richtig, aber so findet man lediglich zu Wissen, - bei weitem noch nicht zu Haltungen und Praktiken.

Eher erwies sich dieser Pfad der Religionsätiologie als Quelle einer oft nur pseudo-wissenschaftlich gesicherten Pseudogewissheit, man wisse ja, wie die religiösen mit den anderen Dingen laufen, und habe von daher eher den Status eines überlegenen Erziehers gegenüber bedauerlich Unaufgeklärten, als die Notwendigkeit zu spüren, auch aus der Immanenz der Gläubigen heraus nachvollziehbar, auf transzendent(al)e Herausforderungen zu antworten.

Es sind z. B. Haltungen und Praktiken gefragt, die unter den heute unhintergehbar multikulturellen Vorzeichen von Staat und Gesellschaft allen die Religionsausübung minus X gewährt, ähnlich wie z. B. in einer Demokratie „Mehrheiten“ die Macht minus X (z. B. Minderheiten- u. Grundrechte) bedeuten (sollen). Und zwar durchgängig notfalls je einzeln zu entwickelnde, zu begründende und ggfls. öffentlich geprüfte und nachvollziehbar belastbare H. & P. von der Familienebene über das Kommunale, Nationale und Nationalstaatliche bis zum globalen Völkerrecht.  

So ist es eben durchaus sinnvoll, einmal zu unterstellen, es gäbe Plausibilität in der Behauptung, vom Koran ließen sich die inkriminierten Mord- u. Hasspraktiken herleiten, denn in der Freiheit der Religionsausübung ist es im Rahmen der freien Evidenzwahl z. B. ja durchaus denkbar, dass der Gegenhalt dazu konträrer Koranstellen bzw. gegenläufiger Stringenzen in seinen Auslegungen z. B. durch mystische Evidenzerfahrung oder andere, im Freiheitssinne berechtigte Einflüsse/Gewichte übersteuert werden kann.

In der freiheitlichen Gesellschaft kann man sich da nicht auf „wissenschaftlich“ bzw. ätiologisch fundierte Suprematie , - und noch weniger auf ideologisch begründete -, berufen.

Vielmehr gilt es, soweit wie möglich zwingende Universallogiken zu entwickeln und zu vertreten/zu verbreiten sowie zur Gestaltung/Verankerung/Fundierung des Rechts zu verwenden, die auch ein jenseitig fundiertes Vernunftparadigma/einen “höchsten Wert“ wie z. B. „töte viele Ungläubige, damit du ins Paradies kommst“ praktisch wie rechtlich, d.h. gläubigen-immanent, sozialisieren können. Das ist aber die Aufgabe der Transzendentalpragmatik, der sich offenbar niemand widmen will.
Statt dessen buchstabieren solche Koryphäen wie Thea Dorn in der aktuellen ZEIT auf Seite Drei stockend lediglich aus der philosophischen Vorschule und halten das für einen relevanten Beitrag.  

Im deutschen Kontext besteht ganz offensichtlich die Gefahr einer Islamisierung sozialer Phänomene. Die vorherrschende »Islamkritik« tut genau dies: Sie bezieht sich auf tatsächliche und vermeintliche Missstände, und behauptet, dahinter stehe eine Masse von »Muslimen«, die sich an einer angeblich eindeutigen Essenz des Islam orientiere und dafür verantwortlich sei.

Nein, jede/r Gläubige hat eine mehr o. weniger „eindeutige“ Glaubensessenz, - die natürlich untereinander sehr differieren können.  Und hinter Missständen stehen wie sonst auch oft Gruppen,  hier durchaus auch muslimische , - von Massen redete man da eher weniger, - anders als die Autoren hier zu suggerieren versuchen, aber das tut angesichts ja z. T. schwerwiegender Effekte auch von wenigen verursacht nichts zur Dringlichkeit von Fragestellungen.

In Barons Beitrag fallen Widersprüche, historische Zusammenhänge sowie die gelebte diverse religiöse Praxis von über einer Milliarde Menschen unter den Tisch.

Richtig, und das ist falsch. Aber haben die Autoren oder sonstwer je bisher etwas anderes geboten? Selbst die zur H-P-Frage allein ja noch gar nicht tragfähige Wissenschaft hat es bisher allenfalls auch nur zu wenigen Promillen der Durchdringung der „Widersprüche, historischen Zusammenhänge sowie diverser religiöser Praktiken von über einer Milliarde Menschen“ gebracht.

Was eint die sogenannten Muslime in Deutschland? Eine kleine objektive Gemeinsamkeit der »Muslime« in Deutschland ist, dass man sie schon immer nach seltsamen Kriterien in Gruppen einsortiert hat. Ein Mensch, der in den 1960er Jahren als Arbeiter aus der Türkei nach Deutschland kam, konnte nicht ahnen, dass seine Ankunft eine neue Epoche sprachlichen Erfindungsreichtums auslösen würde: Aus einem »Gastarbeiter« wurde ein »Ausländer« wurde ein »Türke« wurde ein »Mensch mit Migrationshintergrund« wurde ein »Muslim«. Seine Probleme wurden von »Ausländerproblemen« allmählich zu Problemen des »Islams«.

Derart dünnes Gewäsch zur nicht weiter vermittelten Frage, was die Muslime in Schland „einen“ könnte, - vermutlich im kategorialen bis semantischen Sinn, weniger in Fragen der Missstände, der Orga usw. -, ist kaum erträglich:   Die unterstellte Chronologie und stringente Entwicklung von… über… zu ist eine unbelegte Behauptung, der die m. E. viel plausiblere Auffassung eines semantischen Feldes mit zwar großen Verwendungsschnittmengen aber letztlich je relativ voneinander unabhängigen und kontextuell gut abgrenzbaren Begriffen entgegen zu stellen ist.

Religiöse Praktiken, wenn man sie denn so nennen will, sind jedenfalls vielfältig: eine Sunnitin, die kein Kopftuch trägt, aber trotzdem ihren Sohn beschneiden lässt und sich ärgert, dass der Vater ihres Sohnes ihm zwar zu Weihnachten die Kirche zeigt, an islamischen Feiertagen aber nicht in die Moschee geht. Ein Alevit, der sein Alevitentum leugnet, sich als Atheist sieht und über den Salafismus schimpft, aber trotzdem gegen antimuslimischen Rassismus in Deutschland argumentiert.

Wenn sie keine unqualifizierte Koranexegese betreiben will, muss eine linke Kritik an reaktionären Tendenzen vor allem die falsche Vorstellung eines einheitlichen Islams aufgeben.

Auch das ist sicher richtig, - falsche Vorstellungen soll man aufgeben und der Islam ist nicht einheitlich. Aber er ist eben auch nicht nur eine Ansammlung unvergleichbarer, zueinander völlig inkonvertibler Partikularitäten. Aus welchem Recht wann wie wo zu welchem Nutzen, aus welcher Notwendigkeit oder Pflicht heraus vom „Islam“ als solchem bzw. im Allgemeinen zu sprechen wäre, darüber muss man sich selbstverständlich auch Gedanken machen. Die Autoren und jeder andere dürfen damit schon mal anfangen.

Was spricht ansonsten noch gegen eine qualifizierte Koran-Exegese von linker Seite, bzw.: erübrigt sich durch Anerkenntnis der islamischen Vielgestalt eine solche Exegese?   

Ihre [der linken Kritik an reakt. Tendenzen im Islam] Aufgabe wäre es, diese Tendenzen dort, wo sie konkret auftreten, in die gesellschaftlichen Verhältnisse einzubetten, denen sie entstammen.

Das ist eine genealogisch-ätiologische Verortungsaufgabe. Was ist gewonnen, wenn sie bewältigt wäre? Die Linke Islamkritik wüsste dann „konkret(er)“, woher das kommt. Aber damit noch lange nicht, wohin das geht, - und nur ganz wenig darüber, wann wo welche Grenzen oder Freiheiten zw. den verschiedenen Werten und Ansprüchen legitim zu setzen wären.
Letzteres wäre im Grunde ja auch eine Definition von Westen, den Fundamenten der planetaren Gesamtgesellschaft u. ä., wäre also dispositive Arbeit bzw. Führung und Leitung, - damit ist man bei der Linken aber mindestens genauso schlecht aufgehoben wie beim elenden Rest der professionellen Politik.

Dazu gehört zum einen, Religion auch im Kontext der bestehenden Klassen- und Geschlechterverhältnisse und Konjunkturen von Rassismus zu betrachten. Zum anderen ist eine Kritik auf die Analysen derer angewiesen, die gegen religiösen Chauvinismus aufbegehren, weil er sich konkret gegen sie richtet.

Hannah Schultes und Sebastian Friedrich sind Teil der Redaktion des Onlinemagazins kritisch-lesen.de und arbeiten gemeinsam seit 2010 zu aktuellen Konjunkturen des Rassismus.